Eine Erwachsenen-Kind-Beziehung beruht auf einem ungleichen Machtverhältnis. Kinder sind lange für ihr Überleben und für ihr Wohlbefinden rechtlich, finanziell, körperlich und emotional von Erwachsenen abhängig. Erwachsene haben in der Beziehung zu Kindern die Verantwortung und auch die Macht. Wie Erwachsene diese Verantwortung wahrnehmen und mit dieser Macht umgehen, ist entscheidend für eine Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind.
Hier spielt der Blick auf Kinder eine wesentliche Rolle. Ob Erwachsene Kinder als kleine, sich noch entwickelnde Menschen sehen, die offen und neugierig, sozial und beziehungsfähig auf die Welt kommen oder als erziehungsbedürftig und gar werdende Tyrannen. Dieser Blick bestimmt, welche Ziele und Vorstellungen wir im Umgang mit Kindern haben, wie wir uns in bestimmten Situationen fühlen und wie wir handeln.
Kinder gleichwertig und vertrauensvoll ins Leben zu begleiten, ist die Grundlage für ein erfülltes Familienleben und für eine friedliche Welt.
Kinder sind Menschen und haben die gleichen Rechte auf Würde, Integrität, Persönlichkeit, Selbstbestimmung und Unversehrtheit wie Erwachsene. Das heißt, dass die Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche, Belange, Ideen, Vorlieben und Interessen von Kindern genau so viel wert und wichtig sind wie die von Erwachsenen – auch wenn Erwachsene diese nicht verstehen, nicht erfüllen können oder sie den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen.
Kinder brauchen vertrauensvolle Beziehungen zu selbst- und verantwortungsbewussten Erwachsenen, die sie wertschätzen.
Im Alltag erfahren Kinder häufig keine Gleichwertigkeit und werden aufgrund ihres Kindseins benachteiligt. Das ist eine Form von Diskriminierung, die sich Adultismus nennt.
3 Mythen über die Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind
Nicht selten trifft die Vorstellung des gleichwertigen Umgangs mit Kindern auf Widerstand unter Eltern und Begleiter:innen von Kindern. Wenn Erwachsene Kinder als erziehungsbedürftig verstehen, wird es schwierig sein, Kinder als gleichwertig anzusehen. Der Erziehungsgedanke lässt keine Gleichwertigkeit zu. Zu dem kommt die Angst vor Gleichwertigkeit, dass Kinder dadurch „die Oberhand gewinnen“, kein Respekt vor Autorität lernen oder dass Erwachsene sich dabei aufopfern müssen.
Es gibt einige Ideen über gleichwertige Beziehungen mit Kindern, die es für Erwachsene schwer bis unvorstellbar machen, sich auf Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind einzulassen.
1. „Ich habe dann nichts mehr zu sagen. Mein Kind darf einfach alles machen, was und wie es will!“
Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind bedeutet nicht, dass Kinder grenzenlos aufwachsen oder dass Erwachsene keine Führungsrolle mehr haben. Im Gegenteil: die Grenzen des Lebens sind da, vor allem als Kind, das von seinen Eltern und weiteren erwachsenen Bezugspersonen abhängig (und ihrem Willen ausgesetzt) ist. Kinder brauchen Erwachsene als Beziehungspartner:innen, die Orientierung und Unterstützung bieten, Rückmeldungen geben und die gleichzeitig Verantwortung dafür übernehmen, die Grenzen des Kindes zu achten und ihre Macht nicht zu missbrauchen.
2. „Nur das Kind zählt. Meine Bedürfnisse zählen nicht mehr!“
In einer gleichwertigen Beziehung zum Kind geht es nicht darum, dass Erwachsene sich aufopfern und nicht mehr mit ihren Anliegen, Wünschen oder eigenen Bedürfnisse zeigen dürfen. Es geht darum, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, wo sie sonst von Erwachsenen abhängig und dadurch benachteiligt sind. Es ist ein „sowohl als auch statt entweder oder“, ein „ich auch“ statt „ich zuerst“, ein „wir“ und ein Unden: was brauchst du und was brauche ich und wie finden wir Möglichkeiten, dass es uns beiden gut geht?
Kinder können ihre Gefühle noch nicht allein regulieren. Ihre Bedürfnisse und Wünsche können sie sich selbst nicht erfüllen. Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind heißt, dass Anliegen der Kinder ernstgenommen werden, es nach Wegen gesucht wird, ihre Wünsche und darunter liegende Bedürfnisse zu erfüllen, und wenn das nicht (gleich) möglich ist, ihnen mit ihren (auch starken) Gefühlen sich verständnisvoll zuzuwenden und ggf. zu co-regulieren.
3. „Kinder werden wie Erwachsene behandelt. Dann kann ich auch das Gleiche von meinem Kind erwarten wie von einem Erwachsenen.“
In der Beziehung zum Kind tragen stets Erwachsene die Verantwortung für die Qualität der Beziehung. Das ist anders als in einer Erwachsenenbeziehung, bei dir beide Partner:innen gemeinsam diese Verantwortung tragen. Kinder sind nicht erwachsen und sind noch dabei, sich zu entwickeln und zu lernen. Manche Fähigkeiten haben sie einfach noch nicht und sie brauchen deswegen eine achtsame und wertschätzende Begleitung und ggf. Unterstützung. Was nicht bedeutet, dass sie zu diesen Fähigkeiten fremdbestimmt und ggf. gegen ihren Willen von oben herab erzogen werden müssen, sondern dass sie noch Zeit, Raum, Orientierung und Vorbilder in verständnisvollen und feinfühligen Erwachsenen brauchen, um diese für sich zu erlernen.
Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind fordert keine Gegenleistung. Kinder sind nicht für die Beziehungsqualität oder für das Wohlbefinden der Erwachsenen verantwortlich und Gleichwertigkeit heißt nicht, dass sie Einsicht oder Verständnis für die erwachsene Sicht der Dinge zeigen. Respekt und Einfühlung können nicht eingefordert werden, sondern sie entstehen aus gelebter Gleichwertigkeit.
Wie kann Gleichwertigkeit in der Beziehung zum Kind im Alltag aussehen?
Wenn wir gleichwertige Beziehungen mit Kindern anstreben, gibt es bestimmte Dinge, die wir im Alltag tun oder vermeiden können. Hier sind ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit ein paar Gedanken dazu:
Hat dein Kind eine Wahl?
Hat dein Kind in Alltagssituationen eine Wahl oder ist die Erwartungshaltung, dass es ohne Weiteres tut, was die Erwachsenen sagen? „Ich habe dich dreimal darum gebeten… und du hast es immer noch nicht gemacht!“ Kann dein Kind „Nein“ sagen? Was passiert dann? Dabei ist der Punkt nicht, ob das, was von Erwachsenen verlangt wird, gute Gründe hat oder nicht, sondern ob dem Kind Raum für eigene Gefühle, Meinungen und Erfahrungen bleibt.
Zum Beispiel: ein Kind soll zum Rausgehen eine Jacke anziehen. Was passiert, wenn es die Jacke nicht anziehen will? Dafür hat das Kind einen Grund (z.B. ihm ist es zu warm, es will nur grüne Kleidung anziehen, die Jacke kratzt oder es will einfach selbst entscheiden, ob es eine Jacke braucht). Anstatt das Kind in die Jacke gegen seinen Willen zu zwingen, wäre es möglich, herauszufinden, woran es liegt, dass es die Jacke nicht anziehen will und sie ggf. wegzulassen, gegen ein anderes Kleidungsstück auszutauschen oder dass sie mitgenommen wird. Kinder wollen sich und uns nicht schaden und gleichzeitig wollen sie autonom und selbstwirksam sein.
Auf eine wertschätzende Sprache achten
Die Sprache, die wir Kindern gegenüber verwenden oder unsere Wortwahl, wenn wir über Kinder sprechen, sagt viel darüber aus, welchen Blick wir auf Kinder haben und ob wir sie als gleichwertige Beziehungspartner:innen verstehen.
Eine Sprache, die Kinder und ihre Erfahrungen abwertet oder leugnet, wäre z.B. Wörter und Phrasen wie „kindisch“, „Trotzphase“, „bockig“, „Pubertiere“, „dafür bist du zu klein“, „du bist schon groß“, „das tut doch gar nicht weh“, „stell dich nicht so an“, „nichts passiert!“, „du brauchst doch keine Angst zu haben“ und viel mehr.
Wie wir mit Kindern sprechen und welche Wörter wir verwenden ist oft unreflektiert. Unsere Sprache spiegelt dem eigenen Blick auf Kinder, den eigenen Erfahrungen und der eigenen Sozialisierung.
Wenn wir Kindern auf Augenhöhe begegnen wollen, ist es wesentlich, dass wir auf unsere Sprache und Wortwahl achten. Das schließt eine kindgerechte Sprache nicht aus. Auch diese kann wertschätzend sein.
Der Partner:innen-Check
Würdest du mit deiner:m Partner:in, Freund:in, Kolleg:in so reden oder umgehen, wie du es mit deinem Kind tust? Wie würdest du bei einer Unstimmigkeit bzw. im Konflikt agieren und wie tust du das mit deinem Kind?
Hier geht es nicht darum, wie oben beschrieben, Kinder wie Erwachsene zu behandeln oder eine Erwartungshaltung an sie zu tragen, wie in einer Erwachsenenbeziehung. Doch wir sprechen mit Kindern oft auf eine Art und Weise, die uns in unseren Erwachsenenbeziehungen nie einfallen würde und die wir selbst auch nicht von anderen gut fänden.
Wenn wir für einen Termin spät dran wären und mein Mann noch nicht fertig wäre, weil er noch eine E-Mail zu Ende schreiben wollte, würde ich nicht auf die Idee kommen, seinen Laptop zuzuklappen, ihn zur Tür zu schleppen und in seine Jacke zu zwingen. Wenn wir für einen Termin spät dran wären und meine Tochter vertieft Schleichpferde spielen würde, dürfte ich auch ihr anders begegnen.
Neugier und Wertschätzung
Wenn ich meinem Kind gleichwertig und auf Augenhöhe begegnen will, will ich mein Kind sehen, so wie es vor mir steht und nicht, wie ich es mir vorstelle oder wünsche. Kinder sind autonome Menschen mit eigener Integrität und Persönlichkeit. Nicht selten gehen die Interessen, Vorstellungen und Vorlieben von Eltern, Pädagog:innen und Kindern auseinander und es lässt sich als Erwachsene schnell in eine Abwertung gegenüber den Interessen der Kinder geraten.
Dafür mag es aus erwachsener Sicht gute Gründe geben – Angst oder Sorge, das Kind schützen zu wollen, eigene oder fremde Erwartungen und Standards von außen – und gleichzeitig tut es der Beziehung nicht gut, das neue Videospiel, die Kleidung, das ungekämmte Haar oder den Wunsch nach einem Piercing gleich abzuwerten. Viel mehr können wir unsere Kinder im Sinne der Gleichwertigkeit kennenlernen und Verbindung schaffen, wenn wir neugierig gegenüber ihren Anliegen und Beschäftigungen sind und diese wertschätzen, auch wenn sie für uns fremd oder uninteressant sind, wir sie nicht verstehen, nicht erfüllen können oder sie den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen.
Dialog statt Machtkampf
In einer gleichwertigen Beziehung zum Kind geht es nicht um Macht, sondern darum, sich gegenseitig zu sehen und zu verstehen. Machtkämpfe sind dann überflüssig :-) Im Machtkampf gibt es ohnehin keine Gewinner und der Verlierer ist immer die Beziehung. Um sich auf Augenhöhe zu begegnen, lohnt es sich also sehr, statt Machtkämpfe und Diskussionen, wertschätzende Dialoge in Verbindung miteinander zu führen. Spätestens in der Pubertät, wenn Kinder wortwörtlich auf Augenhöhe mit uns stehen, wird es wesentlich sein, ein gleichwertiges Miteinander zu pflegen, das eine wertschätzende Konfliktlösung mit Jugendlichen möglich macht.
Beitragsbild von XiXinXing
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